Airport Madrid
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Scarlett Johnsons Verwandlung.
Arbeit beflügelt die Top-Managerin Scarlett Johnson. Urlaub ist genauso überflüssiger Luxus wie Privates. Durch ein kleines Versehen bekommt die akkurate Welt Risse, durch die die Jahrzehnte lang gefangene Scarlett beginnt, auszutreiben und sich selbst zu finden. Solche Panik erfasst sie, als sie merkt, dass es kein Zurück gibt, dass sie sogar das Abenteuer einer Reise in den peruanischen Dschungel auf sich nimmt, um bei einem Ayauasca-Ritual Heilung zu suchen. Es bleibt kein Stein auf dem anderen im Leben der Frau, die sogar optisch ihrer namensähnlichen Berühmtheit ähnelt.
Eine Geschichte über die Macht der Veränderung, wenn man den Mut fasst, den Gegebenheiten ins Auge zu blicken.
Inhaltsverzeichnis
1 Airport Madrid
2 Das Versehen
3 Freundschaft
4 Bizarrer Cocktail
5 Workoholic
6 Am Limit
7 Therapie
8 Sackgasse
9 Auf der Kippe
10 Nachtflug nach Peru
11 Schamanendschungel
12 Back to Airport Madrid
13 Scarlett
14 Scarletts Geheimnis
15 Verletzlich
16 Heimkehr
17 Versteckspiel
18 Feuerwerk
19 Epilog
Leseprobe
Airport Madrid
Wo, zum Henker, ist das Gate, zu dem ich muss? Soll ich hier links oder rechts? Hitze schießt mir in den Kopf, so, wie es mir immer geht, wenn ich vor Entscheidungen stehe und nicht genug Zeit zum Überlegen und Abwägen habe - was zugegebenermaßen sehr selten vorkommt. Jetzt presst mir die Panik sämtliche Gedanken aus dem Kopf, auch etwas, das es sonst nicht gibt. Denn mein Kopf ist üblicherweise mit einem beliebig großen Verschiebebahnhof vergleichbar, auf dem jede Menge Züge gleichzeitig koordiniert werden. Wohlgemerkt: ohne zusammenzustoßen.
Vor mir verläuft in beide Richtungen eine schier unendliche Glaswand, die Wegweiser jedoch ohne die Information, die ich suche. Bin ich überhaupt an einer völlig falschen Stelle gelandet? Ich blicke auf meine Notiz auf dem Smartphone. Nein, es muss stimmen. Links? Rechts? Es ist immer besser, das Rechte zu tun, also rechts.
Ich streife mir die Pumps von den Füßen - warum nur hab ich diese dämlichen Dinger für den Flug gewählt? - und renne los. Meine nackten Füße klatschen auf den spiegelblanken Boden, jeder Schritt fühlt sich an wie ein Hieb bei einer Bastonade, dieser Züchtigungsmethode durch Schläge auf die blanken Fußsohlen. Kleine Sünden ...? Immerhin, wenigstens fallen mir noch Metaphern ein, also ist nicht alles verloren. Ich möchte nicht wissen, wie viele Leute auf den Boden gespuckt haben. Ich spüre, wie sich meine Mundwinkel angeekelt nach unten ziehen. Obwohl - hier wird der Boden sicher regelmäßig mit Wischmaschinen gesäubert. Oder? Zwanzig, achtzehn, sechzehn ... acht ... verdammt, ich habe anscheinend doch die falsche Seite erwischt. Keuchend bleibe ich stehen, stütze kurz die Hände auf die Knie und spüre mein Herz wie verrückt schlagen. Ich kneife die Augen zusammen und bemühe mich, das Ende dieser Sackgasse auszuloten. Nein, hier ist es nicht! Kälte zieht durch meine Füße die Beine hoch. Irgendwo im Bauch trifft sie mit der Hitze zusammen, für die mein wild pochendes Herz verantwortlich ist. Also umkehren. Bitte, bitte, lass es mich schaffen! Ich möchte hier nicht festsitzen. Wer weiß, wann der nächste Flug geht, und ich muss dringend morgen Früh im Büro sein, besser noch heute Abend.
Wieder renne ich los. Der Absatz des einen Pumps sticht mir bei jedem Schritt in die Rippen, aber ich kann seine Lage nicht ändern, ohne stehen zu bleiben oder ihn zu verlieren. Ich fliege vorbei an der Stelle, wo ich falsch abgebogen bin, in die andere Sackgasse. Ganz am Ende - natürlich - steht eine mickrige Traube Menschen an. Sollte ich es doch noch schaffen? Aber die Leute stehen. Sie werden nicht weniger. Keuchend werde ich langsamer, spüre, wie mir der Schweiß den Nacken hinunterrinnt und vorne über den Hals, wo er sich zwischen meinen Brüsten sammelt. Wenigstens trage ich kein eng anliegendes Shirt, sondern eine locker fallende Long-Bluse. Draußen steht das Flugzeug, der Passagierrüssel ist noch angedockt. Oh, hey, habe ich doch noch Glück gehabt? Schon will ich mir innerlich auf die Schulter klopfen, zuflüstern, dass Scarlett es eben immer irgendwie schafft. Aber warum geht niemand durch den Schlauch? Nun bemerke ich, dass ein Uniformierter breitschultrig den Weg versperrt, die Tür hinter ihm ist geschlossen. Neben dem letzten Mann der kleinen Gruppe bleibe ich stehen und blicke ihm über die Schulter. Es hat durchaus seine Vorteile, keine Zwergin zu sein. Eine Frau steht wild gestikulierend vor ihm, ihre krausen Locken wackeln vor Empörung. Der Uniformierte fasst sich an die Mütze, will etwas sagen, schüttelt den Kopf. Ich stehe als letztes Mitglied der kleinen Gruppe wenige Armlängen vor ihm und verstehe, was die Frau sagt. Sein Englisch ist mäßig und hat einen starken spanischen Akzent. Mein Herz pocht heftig und ich bemühe mich, meinen Atem zu dimmen, um meinem Vordermann nicht in den Kragen zu blasen.
»Ich kann Sie nicht mehr hineinlassen, es ist gesperrt«, sagt der Uniformierte mit teils abweisendem, teils resignierten Tonfall.
»Aber das kann doch nicht sein, das Flugzeug steht doch noch da!« Die Stimme der Frau wird schrill und ich würde mich nicht wundern, wenn sie ihm an die Gurgel ginge.
»Es geht nicht mehr, es tut mir leid!«
»Meine Familie wartet zu Hause, das können Sie nicht machen!«
»Ich habe einen dringenden Termin heute Abend«, meldet sich ein Mann mit einigem Übergewicht, ebenfalls ungesund roter Gesichtsfarbe, aber tadellos sitzendem metallisch schimmerndem Business-Anzug. Lediglich seine Krawatte sitzt nicht sauber in der Mitte.
Ich will schon den Mund öffnen, aber das macht keinen Sinn. Oder doch? »Hören Sie ...«, setze ich an. Aber der Uniformmann schüttelt nur erschöpft den Kopf und in diesem Augenblick löst sich der Rüssel vom Flieger. Madrid ist offenbar nicht Brasilien. Dort habe ich einmal genau das Gegenteil erlebt. Eine Boden-Stewardess lief vor mir durch den halben Flughafen, den zweiten, São Paulo Congonhas, telefonierte während des Laufens mit Kollegen und kürzte sogar den Sicherheitscheck für mich ab, indem sie den Beamten mit harschem Ton und funkensprühenden Kohleaugen die Leviten las, der Flieger warte nur noch auf mich und er solle sich nicht so anstellen. Schließlich schritt ich damals im Flieger, innerlich wankend und mit am Rücken klebender Bluse zu meinem Platz, wo ich mich so klein wie möglich machte. Nicht, dass ich kein Selbstbewusstsein hätte, aber nach so vielen abschätzig blickenden Augenpaaren war es einfach nicht ganz heil geblieben. Solche Situationen, in denen ich offensichtlich an etwas Schuld bin, machen mir trotz beruflichen Top-Erfolgs nach wie vor zu schaffen. Seine Kindheit wird man nie ganz los, hat mir meine Therapeutin dazu einmal erklärt.
Nun stehe ich da, könnte vor Zorn auf den Boden stampfen und zugleich losheulen. Meinen Job bin ich jetzt wohl so gut wie sicher los. Der Anschlussflug ist somit also vorerst einmal abgehakt.
Ich sehe mich um, entdecke kein Toilettensymbol und gehe wieder zurück zu der verhängnisvollen Abzweigung. Nach ein paar weiteren Minuten finde ich einen Hinweis. Meine Mundwinkel wandern vor Ekel abermals abwärts - barfuß auf einer öffentlichen Toilette! Aber mit dem ganzen Dreck auf den Sohlen in die Pumps zu schlüpfen, wäre noch schlimmer, das hieße ja den Dreck zu konservieren. Meine Fußsohlen kribbeln, als spazierte ich auf Ameisen. Am liebsten würde ich auf Zehenspitzen zu den Waschtischen gehen, aber dann würde ich mir den Schmutz noch in die Zehenzwischenräume reiben. Zwei Frauen betrachten mich unverhohlen mit hochgezogenen Brauen, Blicke untereinander austauschend, als ich, halb hüpfend, um nicht den Halt zu verlieren, zuerst den einen, dann den anderen Fuß auf den Waschtisch hebe. Ich wasche sie sehr gründlich, um sie anschließend noch mit einem Toiletten-Feuchttuch abzuwischen, wie ich sie immer in der Handtasche habe, wenn ich verreise. Dann hüpfe ich etwas beiseite, um den jeweiligen Fuß unter das Trockengebläse zu halten. Alles zuerst für den einen, dann den anderen Fuß. Die beiden Frauen verlassen kopfschüttelnd den Sanitärbereich.
Eine Viertelstunde später stehe ich am Ausgang der Toiletten, keine unangenehme Nacktheit mehr um meine Füße, fühle mich wieder im Gleichgewicht, mit restauriertem Make-up und gekämmtem Haar und blicke nach links und rechts.
Ich atme tief durch. Was war das denn jetzt eben gewesen? So etwas hätte ich vor einem Jahr nie getan. Nie und nimmer. Scarlett Johnson, die kühl kalkulierende Top-Managerin, äußerlich blonder, feuchter Traum vieler Männer, innerlich härter als die meisten Männer in ihrem Business, rennt barfuß über die glänzenden Marmorplatten der unendlichen Hallen des Madrider Flughafens. Undenkbar! Was hätte man sich die Mäuler zerrissen, hätte man mich dabei entdeckt. Niemals wäre ich damals so ein Risiko eingegangen, selbst bei der völligen Unwahrscheinlichkeit, hier entdeckt zu werden. Nein, falsch, nicht einmal in absoluter Abgeschiedenheit hätte ich mir das erlaubt. Aber es gibt Ereignisse, die drehen einen Menschen um wie einen Handschuh nach links.
Eine Frau mit einer gelben Jacke schiebt einen Mann mit pink-himmelblauem Pullover im Rollstuhl vorbei, er blickt mich an, sieht durch mich hindurch. An diesem Teil der Halle ist die Decke abgehängt, über mir zieht sich eine Fläche aus Hunderten von Lichtaugen in beide Richtungen, so weit ich sehen kann. Neben einer Säule aus demselben Material wie der helle, dezent schlierige Marmorboden steht ein Musikantenpaar. Er mit breitkrempigem Sombrero und auf dem Weg zu den Knien hängengebliebender Hose - dabei könnte er Rentner sein - sie mit einem ebenfalls kühnen, aber nicht definierbaren, beeindruckenden Behütungsgebäude, machen sie folkloristische Musik, beide gitarrespielend, sie auch noch singend und mit den gestiefelten, unter langem Rock hervorlugenden, Fußspitzen im Takt wippend. Leise Sehnsucht steigt in mir auf, ich kann nicht sagen, wonach. Wäre ich lieber Flughafenmusikantin? Ich lache kurz auf. Nein, sicher nicht. Doch irgendetwas an dieser vertrauten Gemeinsamkeit macht mich neidisch. Auch wenn es vermutlich ein mieser Job ist, haben sie einander. Setzen sich nach getaner Arbeit irgendwo zusammen auf einen Kaffee oder essen etwas. Oder gehen nach Hause und machen Liebe. Keine Ahnung. Auch wenn es mir wichtig ist, von niemandem abhängig zu sein, womit ich sonst tadellos klarkomme, berührt mich die Szene und ich fühle mich mit einem Mal verlassen. Aufgegeben. Und wahrscheinlich wird auch so etwas auf mich daheim warten. Ein Aus auf der ganzen Linie.
Sie kehren mir den Rücken zu, blicken in ihre eigene Richtung. Ein aus unendlich vielen Menschen zusammengesetzter Strom zieht an mir vorbei, tröpfelt manchmal, flutet dann wieder. Noch nie habe ich mich so außerhalb allen Lebens gefühlt. Mir kommt der Gedanke, dass dieser Strom sich einmal um den Erdball spannt und ich nur lange genug warten muss, um dieselben Leute wieder vorbeidefilieren zu sehen.
Es wird mir klar, das mit dem Fühlen ist seit dieser Reise anders geworden, ich kenne das so nicht. Es ist neu, aber nicht angenehm. Nirgends, finde ich, gibt so viele Menschen am selben Ort, die sich so fern sind, wie auf Flughäfen und Bahnhöfen. Und in U-Bahnen. Überall sonst bleibt zumindest theoretisch Zeit, sein Gegenüber zu bemerken. Also, man könnte innehalten und um sich blicken und würde bemerken, dass rundherum andere Menschen sind, die auch um sich blicken könnten. Hier tut das keiner. Jeder hat sein Gate im Sinn, sein Tor, in das er gelangen möchte und auch gelangt, außer es steht ihm ein Torwart im Weg, wie mir heute meine Gedanken.
Ich seufze und hänge den Arm über die Tasche, die über meine Schulter baumelt und mein aktuell gesamtes Hab und Gut umschließt. Mal sehen, wann die nächste Maschine geht.
Ich gehe an dem Folklorepaar vorbei, bemerke aus dieser Perspektive, dass das Ding auf ihrem Kopf ebenfalls ein breitkrempiger Hut ist und sie beide überdimensionale rote Fliegen tragen.
Den Schalter der Fluglinie zur Umbuchung meines Tickets habe ich bald gefunden und reihe mich in eine lange Schlange ein. Man scheint den halben Flieger leergelassen zu haben.
Das Versehen
Begonnen hat das ganze Desaster mit einem Mann - wie könnte es auch anders sein. Und dass der Zufall seine dreckigen Finger im Spiel hatte, ist nicht verwunderlich.
Wie ich bereits angedeutet habe, bin ich die Leiterin der europäischen Niederlassung des größten amerikanischen Verlagshauses. Heute, da ich auf einer Bank des Madrider Flughafens sitze, ist der 14. Oktober 2017. Der Zufall fand vor etwa einem Jahr statt ... my goodness! Es war exakt vor einem Jahr! Nur nicht an einem Freitag wie damals.
Berlin, Novel House Publishing, 22. Stock, mein Büro, Blick auf den großen Tiergarten, leider nur vom Besuchersessel aus, denn ich sitze mit dem Rücken zum Fenster. Immerhin ein Hochhaus, denn davon gibt es in Berlin nicht allzu viele. Doch auf jeden Fall mehr als in meiner Geburtsstadt Salysbury im Bundesstaat Maryland, USA, wo die höchste Erhebung die Stahlkonstruktion des Sendeturms einer Telefongesellschaft ist.
Es klopft proformamäßig, nahezu gleichzeitig weht mir ein Duft von Fichtennadeln entgegen. Vor sich hergeschoben von Karlotta Hanf. Eine echte Hilfe, wirklich. Wenn sie sich auch noch für einen anderen Duft erwärmen könnte, wäre sie perfekt. Fichtennadeln passen zu allem anderen besser als zu einer professionellen Chefsekretärin eines Milliardenkonzerns. Ansonsten ist sie das pure Klischee: schwarzes, glattes, schulterlanges Haar, korallenrote Designerbrille, Business-Anzug und würde es den Begriff Multitasking nicht bereits geben, hätte man ihn für sie erfinden müssen. Privat ist sie ein verrücktes Huhn, liebt irre Hüte und ist unbeschwert und beliebt. Trotzdem sie mein exakter Konterpart ist, verstehen wir uns großartig. Wenn wir zusammenkommen, schwebt immer ein Duft von Frauenpower in der Luft. Abgesehen von den Fichtennadeln. In einem sind sie und ich uns einig: Wir genießen es, unsere weiblichen Reize einzusetzen, um unsere Ziele zu erreichen. Während die bei mir ausschließlich beruflicher Natur sind, fällt bei Karlotta diese Beschränkung weg.
»Scarlett, denken Sie an den Termin um 17:15 mit Herrn Lambert?«
»Lam... verdammt, danke, Karlotta, den hätte ich um ein Haar vergessen. Ist wo?«
»Besprechungsraum vier, 14. Stock.«
Raum vier? Seltsam. Warum nicht in Lamberts Büro wie sonst? Egal, ich habe keine Zeit, das zu hinterfragen. In aller Eile packe ich meine Unterlagen unter den Arm und mache mich auf den Weg. Heute tun mir die Füße weh, denn ich hatte keine Minute Zeit am eigenen Schreibtisch, mal mit den Füßen aus den Schuhen zu kommen. Mit einem diskreten Ffft begegnen sich die Lifttüren, gedankenverloren drücke ich den Stockwerksknopf. Mein Magen pendelt sich ein und ich blättere noch einmal die Notizen vom letzten Gespräch durch. Auch das Pling ist unaufdringlich, als der Lift mich schwer macht und meine Eingeweide sanft zusammendrückt. Noch den Blick auf den Unterlagen biege ich in den Gang nach rechts ab, um kurz darauf aufzuschauen, Kontrollblick auf das Schild neben der Tür, ja, vier, ich trete ein.
Aha, interessant, haben sie die Möbel umgestellt? Sieht aber ganz gut so aus. Die Nachmittagssonne blendet mich. Ich registriere eine männliche Silhouette mit dem Rücken zum Fenster und nicke ihr zu. Erst als ich am Kopf des Konferenztischs ankomme, um mich zu setzen, erkenne ich - nicht Yannic Lambert. Den Mann hier habe ich noch nie gesehen. Ich bin erstaunt, aber nicht so abgelenkt, dass ich mir nicht schnell endlich die Schuhe abstreifen könnte. Was für eine Wohltat! Mein Gegenüber hat kurzes, gewelltes, brünettes Haar, einen Zehntagebart, tief liegende, dunkle Augen, ein offenes, blaues T-Shirt unter einem indischblauen Sakko. Alles in allem reichlich leger. Ein Besucher?
Ich ziehe die Augenbraue hoch. »Guten Tag. Sie arbeiten bei uns?«
Er lächelt mich an. Er scheint neu zu sein. Und er zuckt mit den Schultern. Fast schon ein wenig respektlos. »Hallo. Vermutlich.«
»Sie wissen es nicht?«
»Na ja«, sagt er gedehnt. »Eigentlich schon. Also ich denke mal so: Wenn Tim zu mir sagt: ›Timo, kannst du mir mal aus der Klemme helfen?‹, ich antworte: ›Eigentlich nicht, bin zu bis oben hin‹, er sagt: ›Mann, du musst es irgendwie möglich machen, mir sind zwei Leute ausgefallen‹, ich sage: ›ich kann wirklich nicht‹, und ich nun doch hier sitze - Tim ist eine echte Nervensäge - sieht es so aus, als würde ich für hier etwas tun.«
Ich runzle die Stirn. »Tim? Welcher Tim?«
»Sind Sie auch nicht von hier?«
Es war heute ein langer Tag und ich habe schlichtweg keine Lust, mich mit einem Fremden groß auseinanderzusetzen, noch dazu mit jemandem, der eine derart schnöselige Art hat. Natürlich kann ich nicht jeden Mitarbeiter kennen. Aber mich kennt jeder. Oder? Ein wenig allerdings bringt mich die Situation doch aus der Fassung. »Nicht von hier?« Ich lehne mich zurück und schlage die Beine übereinander. Dabei achte ich darauf, dass meine schuhlosen Füße unter dem Tisch bleiben. »Wie meinen Sie: nicht von hier?«
»Na ja«, sagt er; wieder. Eine Gewohnheit? »Timo ist meines Wissens Abteilungsleiter. Und auch wenn ein Unternehmen so groß wie dieses ist ...«, dabei macht er eine ausladende Handbewegung, als gehörte die Firma ihm, »dann ist doch wenigstens das mittlere Management untereinander bekannt.«
»Ja, natürlich.« Da kommt mir eine Idee und ich schmunzle innerlich. Warum nicht ein kleines Spielchen? Ich nicke und lächle ihm freundlich zu. Mit einem Mal bin ich wieder munter.
»Also sind Sie auch neu?«, wiederholt er seine Frage.
Ich bewege den Kopf andeutungsweise hin und her. »Vielleicht ein wenig.«
Er lacht, was einen jungenhaften Charme über sein Gesicht legt. Seine Augen sind braun, mit einem leichten Goldstich. Aber der Bart hat eine unvorteilhafte Länge, ist dafür zu schütter. »Wie geht denn ›ein wenig neu‹?«
»Weniger neu als Sie zum Beispiel. Sie sind mehr neu.« Was rede ich denn für einen Schwachsinn daher? Aber es ist irgendwie entspannend. »Und Sie helfen Herrn - Tim? - aus? Inwiefern?«
»Tim Püschel ist ein alter Freund von mir. Seit der Schule und danach haben wir gemeinsam unsere grafische Ausbildung gemacht.«
»Püschel ... Püschel ...«, sage ich und lege etwas Nachdenklichkeit zwischen meine Brauen. Natürlich weiß ich, wer das ist. Aber der ist doch ...
»Ja, genau. Er ist hier der Leiter für Grafik und Design.«
»Ach ja, jetzt erinnere ich mich, den Namen gehört zu haben. Wie gefällt es ihm hier?« Wer weiß, vielleicht finde ich ja auf diese Weise ein wenig heraus, wie die Mitarbeiter denken. Das ist ohne Spionagematerial in der obersten Etage sonst nicht einfach. Und ich halte nichts von Verbrüderungen und Klatsch und Tratsch.
»Na ja«, beginnt er. Eindeutig sein Mantra, wenn seine Gedanken ins Stocken geraten. »Es gefällt ihm ganz gut, nur ist der Druck extrem. Es wird sehr viel von den Mitarbeitern verlangt und erwartet.«
»Aha. Hm ...«, mache ich. »Sie meinen, es ist keine so gute Idee, hier zu arbeiten? Man wird verheizt?«
»So würde ich es nicht bezeichnen.« Er verzieht den Mund, als wollte er das eben Gesagte relativieren, und schüttelt den Kopf. »Der Druck kommt hauptsächlich von ganz oben. Sie wissen ja vermutlich, dass es sich um die Niederlassung eines amerikanischen Unternehmens handelt?«
Ich nicke interessiert.
»Die Chefin«, damit deutet er zur Decke, »ist eine Frau. Direktimport aus den Staaten. Mit original amerikanischer Hire-and-fire-Ideologie. Selbst das absolute Arbeitstier, kompetent, keine Frage, aber stahlhart.«
Ich spüre, wie mir Wärme den Hals hinauf schleicht. Sonst habe ich kein Problem, meine Emotionen hinter einer professionellen Maske zu bewahren. Aber so direkte Auskünfte sind eine andere Sache.
Prompt blickt er mich mit ansatzweise gerunzelter Stirn an. Sicher wird er jetzt zurückrudern. Aber nein: »In leitenden Positionen können Frauen härter sein als jeder Mann.«
Ich atme tief in meinen Bauch und langsam wieder aus, bedacht darauf, das unsichtbar zu tun.
»... haben Sie erfahren?« Ich blicke ihn mit hochgezogener Augenbraue an.
Er lacht locker. »Nein, zum Glück musste ich das nie erleben.« Ungezwungen legt er die Arme auf den Tisch und kommt mir so ein Stück näher. »Ich finde das sehr schade. Härte sollte keine Domäne von Frauen sein. Ihre Stärke ist Weiblichkeit. Würde. Anmut.« Er schüttelt den Kopf und lehnt sich wieder zurück in seinen Sessel. »Aber nicht beinhartes Businessgebaren.«
Blatt nimmt er sich beileibe keines vor den Mund. Ich spüre, wie sich etwas in mir zu verhärten beginnt. »Finden Sie nicht, dass Sie sich da etwas weit aus dem Fenster lehnen? Ich bin eine Frau«, sage ich kühl.
Er lächelt. »Aber doch nicht so eine.« Dann lacht er leise auf. »Ich kann mir Sie nicht als peitschenschwingende Bestie vorstellen.«
»Shades of Grey im Rollentausch?« Es ist sinnlos, der Typ lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Also besser weiter mitspielen. Das Spiel war schließlich meine Idee. Ich überschlage die Beine anders herum und setze mich schräger.
»Wollen Sie wissen, wieso ich das weiß?« Ein spitzbübisches Grinsen verstärkt den Goldton in seinen Augen.
»Oh ja, darauf bin ich ehrlich gespannt!«
Ohne den Blickkontakt mit mir zu verlieren, deutet er mit dem Zeigefinger senkrecht zu Boden. »Eine knallharte Businesshexe würde nie ihre Pumps bei einem Gespräch ausziehen.«
Na, da kennst du Frauen aber schlecht. Die machen noch ganz andere Dinge. Apropos - wie kommt er darauf? Ich runzle die Stirn.
»Natürlich kann ich falsch liegen«, versetzt er, »aber wenn nicht jemand anderes vor Ihnen hier sein Schuhwerk unter dem Tisch vergessen hat, dann muss das, was ich spüre, Ihres sein.« Dazu grinst er unverschämt. Ein echt eingebildeter Schnösel. ›Schuhwerk‹! Was für ein Idiot! Das sind keine Bergsteigerschuhe, sondern Fünfhundert-Euro-Pumps von Gucci. Unverzüglich angle ich mit den bestrumpften Füßen nach den schwarzen Teilen. Und finde nur eines. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass er sich ebenfalls unterirdisch bemüht und zu allem Überfluss stoßen auch noch unsere Füße zusammen.
»Aua! Können Sie nicht aufpassen?«
»Verzeihung, das lag nicht in meiner Absicht!« Was für ein Rowdy! Mit einer geschmeidigen Bewegung ist er unter dem riesigen Tisch verschwunden und auch schon wieder da. Hält beide Pumps in der Hand. »Ich würde sie Ihnen anziehen, aber ich denke, das wäre Ihnen nicht recht.« Entschuldigend zuckt er mit den Schultern. »Oder doch?«
»Nein, das sehen Sie angemessen, es ginge in der Tat zu weit. Stellen Sie sie bitte einfach hin. Danke.« Mir ist die Lust auf eine weitere Unterhaltung nun doch vergangen. Ich fühle mich auf einmal müde und frustriert. »Sie treffen sich mit Herrn Püschel? Hier?« Püschels Abteilung ist doch im fünfzehnten Stock. Deshalb kam ich auch nicht gleich auf Tim.
»Ja«, sagt er und zieht sein Smartphone aus der Jackentasche. Drückt ein paar Mal und liest laut: »Fünfzehnter Stock, Raum 4.«
Fünfzehnter? Hm. Oh verdammt. Bin ich vielleicht im falschen Stock ausgestiegen? Einen Raum vier gibt es in mehreren Abteilungen. Das ist der Code für das kleine Besprechungszimmer. Ich atme wieder tief durch. Mein heutiger Bedarf für Peinlichkeiten ist gedeckt.
»Du liebe Zeit«, sage ich und mein Entsetzen ist nicht gespielt. »Dann habe ich doch tatsächlich den falschen Stock erwischt! So etwas passiert einem auch nur, wenn man neu ist!« Ich lächle gequält.
Er grinst verständnisvoll. »Ist ja auch eine riesen Bude.«
»Ja, allerdings. War nett, mit Ihnen zu plaudern!«
Er lächelt, ich ziele in meine Schuhe und stehe auf. Nicke ihm zu, gehe zur Tür, die im selben Augenblick auffliegt, dass ich um ein Haar eine heftige Ohrfeige bekommen hätte. Vor mir steht Tim Püschel, der Leiter der Abteilung für Grafik und Design, breit, wie immer strahlend, mich um einen halben Kopf überragend.
»Scarlett, Sie hier?« Seine Stimme ein sonores, angenehmes Grollen. Mit breitem Lächeln streckt er mir seine Pranke entgegen. »Was für ein Glanz in unserer bescheidenen Etage!« Dann dreht er sich etwas zu seinem Besuch. »Darf ich bekannt machen? Timo Szymanski, unsere Rettung, Frau Scarlett Johnson, unser aller geliebte Chefin.«
Wieder spüre ich, wie mir die Hitze über den Hals hinaufkriecht. Doch ich werde für meinen Schreck entlohnt durch die Miene des Schnösels. Und ja, ich weide mich an dem Anblick seines offenen Mundes. »Ihre Rettung, Tim?«, frage ich, nachdem ich die peinliche Stille ein wenig genossen habe.
Kurz runzelt Püschel die Stirn, versteht, lächelt. »Ah, Sie haben sich unterhalten? Oh ja! Er ist ein ausgezeichneter Designer, lässt sich aber leider nicht dauerhaft für uns gewinnen.«
Das würde mir auch gerade noch fehlen.
»Hensch und Huppertz sind ausgefallen und das genau jetzt. Ich danke dem Himmel, dass sich Timo von mir hat breitschlagen lassen. Er nimmt es glatt mit beiden auf. Nicht wahr?« Er wendet sich an Szymanski. Der starrt mich immer noch mit unverändert offenem Mund an.
»Na, wunderbar, dann gutes Gelingen den Herren.« Ich nicke beiden zu und bin schon auf dem Gang. Liebend gerne würde ich mein Ohr an die Tür legen, um dem Gespräch zu lauschen, das dort drin jetzt startet. Leider, leider geht das aus Zeitfründen nicht. Abgesehen davon, dass die Türen ohnehin zu gut gepolstert sind.
Ich blicke auf die Uhr und nehme das Treppenhaus für das eine Stockwerk. Zu meinem Termin im Fitnesscenter komme ich heute ohnehin nicht mehr. Dann wenigstens ein Promille davon mit Treppensteigen abdienen.
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