Nur sieben Worte II - Meisterung
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Sieben Worte, die das Leben verändern - eine Liebesgeschichte, die die Zeit besiegt.
Teil 2 - 1960er: Bernhard hat Margot verloren. Innerlich leer begibt er sich auf Reisen von Australien bis Thailand. Er lernt Lotte kennen. Durch sie wird nicht nur sein Schmerz gelindert, sondern er beginnt auch zu ahnen, was die Herausforderung für sein Leben ist.
Ein Roman über Schicksal, die Macht von Kleinigkeiten und davon, dass wir unserer Vergangenheit nicht entkommen können.
Inhaltsverzeichnis
Danach
Down Under
Lotte
Melbourne
Murray Moorcroft
Erfindungsfieber
Besessen
Zurückgelassen
Ausbruchsversuch
Nach dem Biss
Griff ins Leere
Abschied
James
Deutschland
Neuanfang
Eine Art Heimat
Wandlung
Übergang
Vermächtnis
Meisterung
Und ...
Leseprobe
Danach
Absolute Stille herrschte in Bernhard. Bis auf ein dumpfes, gleichmäßig pulsierendes ufh ... ufh ... ufh in seinen Ohren war er taub. Das wilde Treiben, das nach dem alle lähmenden Schock nach Schuss und Handgemenge auf dem Bahnsteig aufbrandete, nahm er nur als leises, wattiges Nuscheln wahr, so, als hätte er Ohrstöpsel. Sanft legte er seine Hand an ihre Wange, worauf ihr Kopf sich ihm zudrehte. Seine Finger zitterten. Ihre Augen blickten an seinem Kopf vorbei. Haarscharf vorbei. Er drehte ihren Kopf ein kleines Stück weiter und nun ging ihr Blick durch ihn hindurch. Warum sagte sie nichts?
»Hey, du«, sagte er weich. Aber ihr Kopf lag stumm in seiner Hand. »Nein«, dachte er, »nein ...« So saß er lange. Da war keine Zeit.
Er spürte es. Zuerst runzelte er die Brauen und hörte in sich hinein. Da war es wieder. Es kroch kalt seinen Rücken hoch. Er nahm die Hand von ihrem Gesicht. Ihr Kopf rollte wie der einer Puppe zur Seite und ihr Blick verlor sich irgendwo in den Streben der Dachkonstruktion des Bahnsteigs. Dann kehrten die Geräusche zurück. Ganz zaghaft, als trauten sie sich nicht, dann zügiger und schließlich mit der Vehemenz des Sprungs einer Raubkatze brachen sie über ihn herein. Das Donnern der Räder des Zugs neben sich, das Quietschen der Bremsen, das Zischen von Ventilen, Fauchen von Pressluft, dumpfe Schläge, als fielen Säcke aus einem Fenster auf den Bürgersteig, Knirschen, vereinzelte Rufe - er konnte sie nicht verstehen. Vor ihm die mahlenden Räder der Waggons, ausrollend, das Pfeifen der Lokomotive, etwas wurde über Beton gezogen, glasklar nahm er jedes Geräusch wahr, als kämen sie alle der Reihe nach zu ihm, um gehört zu werden, um Versäumtes wettzumachen. Dann senkte er den Blick wieder hinunter und dann, erst dann kroch wie ein Heer kalter Quallen die Erkenntnis in ihm hoch, was geschehen war.
Er riss den Kopf herum. Drüben stand Ptak, schwer atmend, sein Schnurrbart stand wirr in alle Richtungen. Am Boden lagen die beiden Männer. Ein Mann in Uniform stürzte aus dem Gebäude, sich im Laufen seine Mütze aufsetzend. Die Türen des Zugs wurden aufgestoßen und ein paar Fahrgäste stiegen aus. Ein Mann in einem beigen Perlonmantel mit Aktentasche, eine Mutter mit einem vielleicht zehnjährigen Jungen, eine alte Frau setzte vorsichtig Fuß für Fuß auf die Eisenstufen, hielt sich am Geländer der Waggontür. Dann sank sein Blick zurück in seinen Schoß. Als er das Blut unter seinem Fuß hervorrinnen sah, durchlief ihn ein Zittern.
Er riss den Kopf hoch. »He! Hee!«, schrie er. »Einen Krankenwagen! Schnell! Hallo! Warum tut niemand etwas?« Gehetzt sah er sich um, Ptak ging langsam auf ihn zu. Er sah, wie ein weiterer Bahnbediensteter in die Halle stürzte, so heftig, dass die Tür innen anschlug. Ptak legte ihm seine Hand auf die Schulter.
Bernhard sah zu ihm auf, sah in seine Augen, sah Bestürzung, die erste Emotion, seitdem er ihn kennengelernt hatte. »So tun Sie doch was«, rief er. »Bitte ... bitte, tun Sie was ...« Seine Stimme wurde zu einem Flüstern und Ptaks gewaltiger Schnurrbart und sein ernstes Gesicht verschwammen. Er beugte sich vornüber, nahm Margot in den Arm, tastete sie ab, ihren Arm, ihren Hals, ihre Haare, ihr Gesicht. Irgendetwas fehlte. Was war das? Was war es nur. Verzweifelt wühlte er in seinen Erinnerungen. Was nur ...?
Bis es ihm einfiel.
Es war ihr Duft. Sie hatte ihn mitgenommen.
Diese Erkenntnis traf ihn wie ein Faustschlag und sie war es, die all seine aufschäumende Verzweiflung aus ihm hinausbrechen ließ. Unscharf Ptaks Gesicht, vergeblich zwinkerte er den Tränenstrom weg und schluchzte: »So ... tun Sie ... doch ... etwas.«
Irgendwo nahm er Sirenen wahr, Getrappel, sanft, doch bestimmt schob sich ein Arm unter seinen und wollte ihn aufrichten. Er klammerte sich an Margot. Doch der Druck der Hand nahm zu, zog ihn hoch. Gleichzeitig griff jemand anderes unter Margot. Plötzlich stand eine Trage da. Nein, er wollte nicht von ihr fort. Aber mit sanfter Bestimmtheit wurden sie getrennt. Margot lag auf der Bahre. Eine Blutspur von ihr zu ihm.
Die letzte Verbindung zwischen ihnen.
Der Mann, der ihm aufgeholfen hatte, nahm seinen Arm von ihm. Schwankend stand er da, blickte hinunter, sah zu, wie jemand ein weißes Tuch über sie breitete, und als es über ihren Kopf gezogen wurde, konnte er sich nicht mehr halten. Er schrie! Wild blickte er um sich, schrie, wo die Schweinehunde wären, er würde sie umbringen, diese verdammten Schweine. Seine Stimme überschlug sich. Hände hielten ihn fest. Margot wurde hinausgetragen. Die beiden am Boden liegenden Männer wurden mit Tragen abtransportiert.
»Es tut mir leid«, sagte Ptak in sein Ohr, »mein allergrößtes Beileid, Herr Ferrätti ... kommän Sie ...«
Ptak führte ihn hinaus, stützte ihn wie einen Betrunkenen, half ihm beim Einsteigen in den Wagen, umrundete den Aston Martin, stieg ein, startete und fuhr los.
Sie hielten bei Ptaks Haus, gingen hinauf in dessen Wohnung.
Dann saßen sie am selben Platz in denselben Sesseln, als Bernhard hier gewesen war, um Ptak zu engagieren.
Down Under
Bernhards Kopf war auf seine Brust gesunken, das eintönige Rauschen der Lüftung und der Motoren hatten ihn ermüdet. Sie waren von Singapur aus vor etwa zwei Stunden zur letzten Etappe gestartet. Eine Zwischenlandung in Darwin, dann würden sie Cairn erreichen. Weit weg hatte er gewollt und weiter als Australien ging nicht.
Nach Margots Beerdigung hatte er versucht, in seine Arbeit zurückzufinden, aber er war gescheitert. Alles im Büro erinnerte ihn an sie, alles im Ort, nein, es war der Ort selbst. Das trostlose Wetter hatte seine Stimmung ins Unerträgliche gesteigert. Eines Tages beschloss er, alle Brücken hinter sich abzubrechen. Lange genug war sein Leben in einem mehr oder weniger erfolgreichen Einerlei verlaufen. Mit Margot zusammen und vielleicht Kindern hätte es einen Reiz gehabt, so fortzufahren, aber nicht so. Neue Ufer, eine neue Herausforderung, etwas Großes schaffen, für sich und andere. In Australien betrieb man Studien zur Gezeitenenergie und dort wollte er beginnen.
Stück für Stück demontierte er sein bisheriges Leben. Physisch begann er bei seiner Turbinenkonstruktion in der Badewanne, trug die teuren Teile zum Schrotthändler, einen Käufer zu suchen hatte er kein Interesse. Finanziell war er so gut abgesichert, dass er gute zehn Jahre sein Auskommen hätte. Dann stürzte er sich in die Arbeit, praktisch Tag und Nacht, Weihnachten und Neujahr schlief er nur wenige Stunden täglich. Er wollte schnellstmöglich fertig werden, um seine übers Jahr laufenden Baustellen mit möglichst wenig Altlasten weitergeben zu können. Zwei seiner Techniker wären zur Auswahl gestanden, seine Nachfolge im Betrieb anzutreten. Als er erfuhr, dass Johnny Hammes mit Gretchen zusammen war, Margots Freundin, gab er ihm den Vorzug. Lediglich mit Edgar traf er sich hie und da abends im Carambolage auf ein Bier. Es tat ihm leid, seinen Freund zu verlassen. Obgleich dieser ihn zu überreden versuchte, hierzubleiben, ihm versicherte, es würde besser werden und seine Trauer vergehen, hielt er an seinem Vorsatz fest.
Am 26. Januar war es dann so weit gewesen. Er hatte eine kleine Abschiedsfeier ausgerichtet, nach der er Gretchen eine ansehnliche Summe dafür gab, dass sie sich um Margots Grab kümmerte. Alles war verkauft. Seine Giulia hatte er auf der zerkratzten Seite neu lackieren lassen. Dann überließ er sie Edgar zu einem Freundschaftspreis.
Ein Taxi hatte ihn schließlich zum Flughafen gefahren und bald darauf war er nach Südosten in den Himmel gestiegen, sein gesamtes Hab und Gut in einem großen Reisekoffer.
Er erwachte, weil sein Sitznachbar ihm auf den Arm klopfte. Vermutlich für längere Zeit die letzte deutsche Stimme, ein Ethnologe aus Berlin. »Sehen Sie? Das Meer, dort drüben muss das Barriere-Riff sein. Und sehen Sie den Regenwald dort? Und dieses unglaublich weite Grasland. Ich liebe Down Under.«
Bald darauf schüttelte ihn ein unsanftes Rumpeln durch. Die Landung war keine Meisterleistung des Piloten gewesen. Dabei war die australische Fluggesellschaft bekannt für ihre Qualität. Er verabschiedete sich von dem Mann, dessen Namen er vergessen hatte. Er würde ihn ohnehin nie wieder sehen. Er blieb sitzen, wartete, dass ein Teil der Passagiere das Flugzeug verließ. Als der Passagierstrom lichter wurde, stand er auf, hob die kleine Tasche aus der Gepäckablage über sich und fädelte sich in die letzten wartenden Passagiere ein. Langsam kroch die Schlange nach vorne. Durch die geöffnete Tür der Douglas C-54 Skymaster der Trans Australien Airlines warf ihm die Sonne einen fast aggressiven Lichtstrahl entgegen. Auf dem oberen Podest der Fahrgasttreppe drängte er sich dicht ans Geländer, um die anderen Passagiere vorbeizulassen. Die glänzende Metallhaut des Flugzeugs verstärkte die unwirkliche Stimmung. War er nun wirklich hier? War das wahr? Die Hitze ließ ihn seine Jacke ausziehen, hier war gerade die heißeste Jahreszeit und die garantiert dreißig Grad trieben ihm den Schweiß auf die Stirn.
Sein neues Leben. Was ihn wohl erwartete?
Er trat zur Seite, ließ sich mit dem Strom der anderen fortspülen. Zollformalitäten, Übernahme seines Gepäcks. Während der Flieger für ihn noch wie eine Nabelschnur war, so war hier, vor dem Flughafengebäude, selbst sie zerschnitten. Er stieg in ein Taxi und ließ sich in ein beliebiges Hotel fahren.
Der Balkon, auf dem Bernhard saß, lag ostseitig, somit bereits im Schatten. Er hatte es sich auf einem Korbstuhl bequem gemacht, ein Bier auf einem ausgeblichenen Plastiktisch neben sich. Unter ihm rollte karger Verkehr. Weiter drüben der blaue Teppich des Pazifiks, von dem der Ethnologe aus dem Flugzeug gemeint hatte, dort müsse irgendwo das berühmte Barriere-Riff liegen mit seiner tiefsten Meeresschlucht, dem Marianengraben.
Ihm war heiß, ein leichter Wind wehte vom Meer herüber und es kam ihm so vor, als hätte ihn das Flugzeug auf irgendeinem fernen Planeten abgesetzt. Aber genau das hatte er ja gewollt. Dass sich nun alles anders anfühlte, als er es sich gedacht hatte, war eine andere Sache. Er rückte den Stuhl näher zum Balkon und legte die Beine auf das Geländer. Außerhalb des Orts, so hatte er aus dem Flugzeugfenster heraus festgestellt, dehnte sich Grasland, und sanfte, dicht bewaldete Hügelketten umschlossen die Kleinstadt weitläufig. Als sich Erinnerungen in sein Gedächtnis schoben, stand er auf und schlenderte ins Zimmer. Er sah auf den geöffneten Koffer. Keine Ahnung, wie lange er hierbleiben würde. Also räumte er den Inhalt in den Schrank. Dann nahm er sein Englischbuch aus der Reisetasche und setzte sich wieder ins Freie.
So gut wie möglich hatte Bernhard in den letzten Wochen zwischen seinen hektischen Abschlussarbeiten sein Englisch aufgebessert, das er von der Gefangenschaft her noch konnte. Aber auf Schritt und Tritt hatte er hier feststellen müssen, wie dürftig es trotz allem war. Ob beim Zoll oder bei der Hotelsuche oder im Hotel selbst. Es ärgerte ihn, dass er sich dadurch wie behindert vorkam.
Der Wind wehte unbekannte Vogelstimmen an sein Ohr. Sie kamen von den Bäumen, die wahrscheinlich Eukalyptusbäume waren oder Akazien. So stand es jedenfalls in dem Reiseführer. Er war neugierig, wann er erstmals diese naserümpfenden Wollknäuel, die Koalabären, sehen würde.
Nach einer halben Stunde gab er auf, seine Gedanken ließen sich nicht so einfach verscheuchen. Zu allen Tages- und Nachtzeiten tauchte vor seinem inneren Auge Margots leerer Blick auf. Er schluckte und zwang die Tränen, die seinen Hals heraufkrochen, wieder zurück. Er wollte eine Runde spazieren gehen.
Schnell hatte er den Stadtkern hinter sich gelassen und schritt an einstöckigen Häusern vorbei, zwischen denen Palmen aussahen wie Staubwedel, die im Boden steckten. In dieser Straße führten bei sämtlichen Häusern Treppen in den ersten Stock hinauf, der offenbar den eigentlichen Wohnbereich stellte. Dann folgten kleinere Bungalows. Zu einem Haus bog gerade ein roter amerikanischer Mittelklassewagen mit weißem Dach ein. Ein Mädchen kam aus dem Haus, ging zu dem Briefkasten, und entnahm der Ablagefläche auf der Rückseite die dort wartende Milchflasche. Bernhard lächelte. Ländlicher ging es kaum. Offenbar der Bruder des Mädchens und deren Mutter kamen aus dem Haus und begrüßten den Fahrer des Wagens. Die Familie schien wieder vereint zu sein. Gerade als Bernhard auf gleicher Höhe war, öffnete der Fahrer den Kofferraum, faltete eine Folie auf und Bernhard konnte einen Blick auf unzählige, frisch gefangene Krebse werfen. Konnte man die hier einfach so fangen?
Ein paar Mädchen fuhren auf Fahrrädern vorbei, sie kamen wohl aus der Schule.
Eine Weile später ließ er auch die Bungalows hinter sich und wanderte durch einen lichten Wald, und wieder fragte er sich, ob das nun Eukalyptus wäre. Das war schließlich der Stoff von Hustenbonbons aus seiner Kindheit. Weiter ging es dann unter Palmen über sperriges Gras, viel gröber als daheim. Nach einer Weile tat sich zwischen den Palmenstämmen und über den zurücktretenden Büschen die Weite auf, blau und nochmals blau. Das dunklere Blau des Meeres traf sich irgendwo in einer feinen Linie mit der helleren Fläche des Himmels.
Er setzte sich auf einen Stein.
Oft war er seit Margots Tod das Thema durchgegangen: Nie wieder würde er eine Frau näher an sich heranlassen. Seine erste Frau war gestorben und nun die zweite, zu der er tiefe Gefühle entwickelt hatte - und das nach so kurzer Zeit. Zweimal so endgültiger Trennungsschmerz - das reichte. Es brachte einfach nichts, sich auf diese Weise auszuliefern. Sich abhängig zu machen von der Zugehörigkeit zu anderen Menschen. Was brauchte er mehr als sich? Er stützte sein Kinn auf seine Fäuste, die er auf dem Knie übereinandergesetzt hatte. Hier würde er ewig sitzen können und das Meer beobachten. Oder an einem anderen Ort der Welt. Nur so wäre er unabhängig und müsste sich keinem weiteren Schmerz mehr aussetzen müssen. Es war doch auch all die Jahre gut gegangen, bevor er Margot getroffen hatte. Sie hatte ihn hinauskatapultiert aus seinem Gleichmaß, seiner kleinen, freudarmen, aber immerhin heilen Welt. Die hatte ihr Gutes gehabt. Wahrscheinlich wäre er nie freiwillig aus dem Baugeschäft ausgestiegen. Er war ein geachteter Mann in dem Ort gewesen. Hie und da eine kleine Affäre, wenn ihm zu einsam ums Herz wurde. Na ja, vielleicht ehrlicher, wenn ihn der Drang nach Vereinigung dazu trieb. Er lachte kurz auf. Ja, genau, deshalb hieß es ja Trieb. Vielleicht wäre er einmal Carlas Charme erlegen, wer weiß. Sie war ein nettes Mädchen. Sie roch immer so appetitlich und sie war ungewöhnlich hübsch. Nicht nur einmal hatte er mitbekommen, wie Lieselotte anzügliche Bemerkungen zu Lothar gemacht hatte, dass er eine so hübsche Sekretärin angestellt hatte.
Dann dachte er über die Eifersucht nach. Was war die für eine seltsame Sache. Wenn ein Mann mit einer anderen Frau ins Bett stieg, dann war das eine Katastrophe. Wenn ein Mann sich aber mit einer anderen Frau besser verstand, dann machte das nichts aus. Er erinnerte sich noch an die Zeit mit Henni. Henni war eine Frau gewesen, die er als lieb bezeichnete. So richtig zum Heiraten und Kinderkriegen. Sie wäre sicher eine perfekte Mutter gewesen und hätte es aufs Trefflichste verstanden, die Familie zusammenzuhalten. Aber mit ihr zu philosophieren, wie er es gelegentlich gern tat? Daran war nicht zu denken. Das interessierte sie einfach nicht. Begann er mit irgendeinem Thema, woher der Mensch käme, wohin er ginge oder dergleichen, so wurde sie regelmäßig müde. Sie sagte es ihm nie direkt ins Gesicht, so war Henni nicht. Sie wollte nie jemanden verletzen. Sie kommunizierte unterschwellig. Auch auf seine Bemerkungen zu diesem Verhalten ging sie nie ein. Manchmal hatte ihn dieses Nicht-Aussprechen wahnsinnig gemacht. Irgendwann hatte dann auch er aufgehört über bestimmte Themen zu sprechen. Als sie beisammen waren, war ihm nie aufgefallen, was ihm alles fehlte. Die Tage hatten sich aneinandergereiht wie eine endlose Perlenkette. Jeder von ihnen lebte in seiner eigenen Welt vor sich hin und außer den Berührungspunkten, die ihnen durch die äußeren Notwendigkeiten aufgezwungen wurden, gab es kaum welche. Nun, so ganz stimmte das nicht, denn die Geborgenheit einer im Entstehen begriffenen Familie war schließlich keine Notwendigkeit. Oder doch?
Er zog eine Zigarette aus der Packung und versuchte, sie in der hohlen Hand zu entzünden. Der auflandige Wind machte das zu einem Geduldsspiel. Das Feuer war an einer Seite aufgesprungen, mit den nächsten Zügen fraß sich die Glut rundherum, verteilte sich gleichmäßig. Er schüttelte das Feuerzeug neben seinem Ohr. Bei Gelegenheit müsste er für Benzinnachschub sorgen. Bisher war ihm gar nicht aufgefallen, dass Salz roch. Oder war es in Wirklichkeit eine Prise aus Algen und vermodernden Pflanzen, die das Meer gepökelt an seinen Strand gespült hatte? Kreischend kreisten schwarze Vögel über ihm, kamen ihm dabei zuweilen so nahe, dass er glaubte, er könne sie berühren, streckte er seine Hand nach ihnen aus.
Ja, was wollte er eigentlich, was erwartete er sich vom Leben? Hatte er sich diese Frage jemals gestellt? Oder hatte er sich einfach dahintreiben lassen wie ein Stück Holz in einem Bach? War sein Leben nicht diesem Getriebenwerden bisher sehr ähnlich gewesen? Warf man ein Stückchen Holz in einen Bach, dann trieb es eine Weile munter schaukelnd auf den Wellen, wippte froh auf und ab. Dann waren zwei Steine im Weg und es hing fest. Zwar wippte es mit dem Wasser, das ständig in Bewegung war, aber es verharrte an derselben Stelle. Bis ein Regen kam. Der gab dem Bach Kraft, er plusterte sich auf und hob das Stück Holz einfach über die beiden Steine, die es festhielten. Damit war es dann wieder flottgekommen und ritt weiter auf den Wellen. Diesmal eifriger, ja eilig, als hätte es etwas Versäumtes aufzuholen. Er stieß die Luft aus und presste die Lippen kurz zusammen. Wie das Leben. Nein: wie sein Leben. Nein, doch: Wie das Leben. Gab es hinter all den Geschichten, von denen jede eine eigene, sehr persönliche war, auch etwas, das für alle gleich war? Sozusagen eine Art Regelwerk, nach dem man sich richten konnte? Etwas, wo man nachlesen konnte, was wichtig war?
Er schnippte die Zigarette weit weg in den Sand. Gern versuchte er, die Kippen so weit wie möglich wegzuschnippen. Spannte seinen Zeigefinger an, bis die Sehnen straff waren wie die eines Bogens, versuchte sich im optimalen 45-Grad-Winkel, um die größte Entfernung zu erreichen. Diesmal nahm der Wind das Zelluloseröllchen mit sich und erfreute Bernhard mit einer neuen Rekordweite. Einer der schwarzen Vögel stieß herab und pickte danach. Nicht!, dachte er. Aber Vögel sind nicht dumm. Er erkannte die Täuschung, wandte den Kopf ein paar Mal ruckartig nach links und rechts und hob wieder ab. Ob er auf ihn sauer war? Dachten Vögel überhaupt? Hatten sie wenigstens Gefühle? So vieles wollte er gerne wissen. Und darüber wollte er mit jemandem sprechen. Margot ...
Scheiße.
Er stand auf. Der Strand schien endlos. Endlosigkeit war hier überhaupt das Thema. Die See. Irgendwo entzog sie sich dem Zugriff seiner Augen, verschwand einfach so, verkrümelte sich hinter dem, was man Horizont nannte. Das Wasser ging in Linien ins Land über. Die vom Meer kommenden Wellen wanderten unablässig her, auf ihnen ritten weiße Schaumkrönchen und machten rauschend auf sich aufmerksam. Dann die feineren sich bewegenden Linien, in denen das Wasser schon bescheidener geworden war, erkannt hatte, dass sich das Land nicht mit Gebrüll erobern ließ. Leise murmelnd begab es sich in ihnen wieder zurück zu Seinesgleichen. Vielleicht grinsten diese schaumumrandeten Wasserzungen über ihre vorpreschenden Kolleginnen, weil die nicht wussten, dass es sinnlos war? Ihr werdet es gleich erleben? Wie versandete Wellenausläufer zeichneten die nächsten, schon statischen Linien Geschichte der letzten Minuten und Stunden. An ihren Rändern Ästchen, Früchte, Muscheln. Die Kokosnüsse lagen weiter oben, bildeten die Hauptlinie. Manche waren grün, andere bereits braun, manche angebissen und wieder andere wankelmütig: Halb braun, halb grün. Ab und zu Anzeichen von Zivilisation dazwischen: eine rote Ketchup-Flasche, eine Plastiktüte.
Der Wind trieb sein Haar auf die Seite, er spürte den Widerstand in den Haarwurzeln. Roch Salz und Tang. Und obwohl er erst seit kurzem hier war, kam es ihm so vor, als wäre er schon immer hier gewesen, nur würde es ihm erst jetzt bewusst. Ach, Margot ...
Morgen wollte er Kontakt aufnehmen mit dem Ingenieur, der die Forschungen vorantrieb. Wie es wohl mit der Verständigung klappen würde?
Er wandte seine Schritte wieder landeinwärts.
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