Parallelreise 2 - Reifung
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Drei parallele Reisen: physisch Griechenland, emotional eine große Liebe und spirituell in unbekannte Regionen.
Adrian plante in Teil 1 lediglich, mit Freunden mit dem Motorrad einen netten Urlaub in Griechenland zu verbringen. Aber es kam alles anders, als es der Plan vorsah. Er erlebte eine Berg- und Talfahrt zwischen Erwartung und Enttäuschung. Dieses emotionale Auf und Ab steigert sich vorerst zu einem jubelnden Crescendo. Doch ... werden die Ereignisse Adrian zu Boden werfen oder wird es ihm gelingen, als Phönix aus der Asche aufzusteigen ...?
Ein Roman im sonnenflirrenden Griechenland für den dieser Spruch gemacht sein könnte: ›Der Mensch plant und Gott lacht.‹ Und ein Muss für jeden Griechenlandfreund.
Inhaltsverzeichnis
Bisher ...
Angekommen
Regenjagd
Vertrautheit
Hinter dem Schleier
Rosa Apartments
Wilde Mani
Alices Geschichte
Poseidons Orakel
Wissen macht einsam
Die Quelle
Vorspiel
Die Muschel öffnet sich
Denkwürdig
Weltenwandernde
Verbundenheit
Feigenballade
Naiver Leichtsinn
Romantik & Katzenmafia
Animus an Anima
Am Dach des Taigetos
Topf der Muster
Regeneinsamkeit
Einatmen
Erfüllung
Kein Benzin und dicke Luft
Unerwartet
Lelas Taverne
Herz im Zentrum
Gegenseitig schief
Der Morgen
Der Strand
Die Ahnung
Vorhang und Janes Geschichte
Schockgefroren
Doppelter Boden
Nichts ist fremd
Gestilltes Blut
Ausbruch
Autoimmunsystem
Licht im Westen
Flucht
Kleiner Strand mit Taverne
Wiedersehen
Ein erster Schritt
Burtzi
Verlust macht Sinn
Schattenadvokat
Befreiung
Regen
Sichtwechsel
Sinnesweide
Tians Geschichte
Magisches
Schamanenkraft
Traum
Epilog
Leseprobe
Regenjagd
Dass ich sogar diese Nacht nicht besonders gut schlafen werde, war nicht vorauszusehen. Zuerst hinderte mich trotz Müdigkeit eine wilde Party im Parterre - trotz drei Stockwerken unter mir - am Einschlafen. Auch daran lässt sich die Bauweise dieses Schuppens beurteilen. Während der Nacht erinnerten mich ständig Blitz und Donner daran, dankbar zu sein, dass ich ein festes Dach über dem Kopf habe. Bin ich, wirklich wahr! Und nun ist es das unablässige ›Ruguhhgu‹ von ein paar Tauben oben auf dem Dach, das meinen Morgenschlaf zunichtemacht.
Ganz abgesehen von der fiebernden Erwartung auf das Zusammentreffen mit Alice, die der Schlaflosigkeit den Rest gibt. Das wird überhaupt das erste Mal sein, dass ich alleine mit Alice beisammen bin!
Wieso Tauben mit so erhabener Symbolik wie zum Beispiel Frieden in Zusammenhang gebracht werden können, habe ich noch nie verstanden. Tauben sind mit zwei Aussagen auf den Punkt zu bringen: Sie zerstören mit ihrem Scheiß Denkmäler und stören beim Ausschlafen. Also Fehlkonstruktionen auf ganzer Linie. Und Brieftauben kenne ich keine. Das sind meine unpoetischen und einzigen Assoziationen. Aufdringlich sind sie außerdem.
Das Frühstück ist alles andere als üppig. Brot, etwas Marmelade und eigenwillig schillernde Wurst, die mich überhaupt nicht zu Experimenten anregt. Abgesehen davon sind es nur noch wenige Scheiben, die in ihrer Unordnung von den verzweifelten Selektionsversuchen meiner Frühstücksvorgänger erzählen.
Das Wetter macht noch keinen vertrauenserweckenden Eindruck. In den Berge hängen noch dunkle Wolkenfetzen am Himmel. Weil ich keine Lust habe, hier nochmals für gutes Geld schlecht zu schlafen, um danach bescheiden zu frühstücken, bezahle ich, und kehre dem Hotel Belle Helene den Rücken. Das einzig Hübsche hier war gestern am Abend die Rezeptionistin, die aber kaum beim Namen des Hotels Pate gestanden hat.
Ob das Wetter wirklich bedrohlich bleibt, denke ich dann zu erkennen, wenn ich von dem Sattel bei Areopolis aus nach Westen sehen kann, denn von dort kommt es schließlich her. Deshalb bepacke ich Akbar, schwinge mich dann auf ihn und gleite vorerst die Kurven hinüber zur Hauptstraße und dann bergan, um mehr Aufschluss zu erhalten. Als ich oben ankomme, sinkt meine Hoffnung auf einen strahlenden Tag. Gegenüber, um den Monte Tsigou, bäumen sich drohende Gewitterwolken auf, hinauf Richtung Kalamata legt dichter Regen bereits seine Schleier über die Landschaft.
Wenn man hier von Gewitterwolken redet, dann sind das wirklich Gewitterwolken. Wie in Griechenland üblich, wechselt das Szenarium allerdings schnell. So ähneln sich südliches Wetter und Temperament durchaus: gewitterhaft dunkel und bedrohlich kann kurz darauf sonniger Weite und Freundlichkeit weichen. Die Wolken scheinen nach Norden zu treiben, was mich dazu ermuntert, ihnen nach Limeni hinunter hinterherzufahren. Das Meer ist aufgewühlt, wirft unwillig sein Wasser an die Felsen, die Gischt stiebt weit in die Höhe, um noch im Steigen vom Wind verweht zu werden. Mit unzähligen zornigen Fingern schießt das Meer bei jedem Anprall in den Himmel, als wolle es sich dort festhalten, um nicht wieder zurückzufallen. Vielleicht projiziere ich aber nur irgendetwas von mir ins Wasser und in Wirklichkeit tanzt es einen kraftvollen, fröhlichen Tanz.
Ohne ersichtlichen Grund schaue ich wieder hinüber zum Monte Tsigou.
Oh!
So schnell die Wolken abgewandert waren, so flott machen sie sich nun auf den Rückweg! Auf der anderen Seite des Ufers sehe ich bereits die nassen Schleier den Boden berühren, wohl höchste Zeit, Land zu gewinnen. Da doch immerhin die ganze Bucht zwischen dort und hier legt, glaube ich, genug Zeit zu haben.
Mein nächster Blick, vielleicht eine halbe Minute später, belehrt mich aber eines Besseren. Der Schleier ist schon über die halbe Bucht gewandert. Wir sind wie ein eingespieltes Team: Ich und Tiger Akbar, meine Hände, sein Gasgriff, Kupplungs- und Bremshebel, meine Füße, sein Bremspedal und Schalthebel, ein Team, das nun zu voller Leistung auffährt. Wir jagen wie der böige Wind die Straße hoch, hier ist kein Schutz zu erwarten, alles kahl, nicht einmal Bäume. Ich will nicht schon wieder eingeweicht werden und schon gar nicht ohne Aussicht auf einen geschützten Raum, wo ich trocknen kann. Einige Tropfen wehen mir schon ins Gesicht. Die Gerade bis zur Kreuzung, schnell rechts und dann links in den Ort hinein. Wieder ein kalter Windstoß mit Tropfen vermengt. Links die Tankstelle, schnell hinein in die leere Servicebox, um Erlaubnis fragen kann ich nachher. Kaum bin ich drin, zieht der Himmel seinen Wasserschleier über den Ort und verwandelt alles Ebene mit unzähligen zerschellenden Tropfen in eine bizarre, hüpfende Miniaturlandschaft.
Ein paar Schritte hinüber, und ich stehe in dem kleinen Raum, in dem sich ein untersetzter Bärtiger, vermutlich der Chef, mit einigen anderen Griechen unterhält. Es würde ihm nichts ausmachen, dass ich und Akbar das Ende des Regens in der Box abwarten würden. Sie kommen herüber, ›nice bike‹, und stellen die üblichen Fragen über das Motorrad: PS, Hubraum, Höchstgeschwindigkeit, Beschleunigung. Ich freue mich, dass ein paar englisch sprechen. Und wie immer nehme ich die unmerkliche Distanz wahr, die Akbar erzeugt, so, wie das eben Tiger an sich haben. Vielleicht ist es aber auch eine ganz andere, und zwar die zwischen Einheimischen und Fremdstämmigen. Hätte ich gewusst, was ich in einer späteren Griechenlandreise erfahren werde, dann wäre mir dieser Abstand erklärlich: Ausländer, die alleine Reisen, sagte mir eine Griechin, werden als Paria betrachtet. Gesellschaftslose Zigeuner.
Nach einer Dreiviertelstunde lässt der Regen nach. In der Zwischenzeit habe ich nachgedacht, wobei mir Roberts Erwähnung einfiel, in der Nähe des Campingplatzes etwas von Appartements gelesen zu haben. Das soll nun mein nächstes Ziel sein. Die Straße ist noch nass, was in allen südlichen Ländern nach meiner Erfahrung gefährlich sein kann. Sobald der Asphalt sein Aussehen ändert, sollte man unbedingt eine vorsichtige Bremsprobe machen. Manche Stücke sind auch bei Nässe nahezu gleich griffig. Andere hingegen werden rutschig wie Schmierseife. Auch von gleichem Aussehen eines Stücks etwas später darf man sich nicht täuschen lassen. Schließlich biege ich wieder in die Straße ein, die zum Campingplatz führt und suche nach Zufahrten zu Appartements. Manchmal lasse ich Akbar stehen, um meine Erkundungen zu Fuß fortzusetzen. Ich möchte es vermeiden, in einer Sackgasse steckend Hilfe suchen zu müssen, weil ich Akbar nicht alleine wenden kann.
Nach langer Suche entdecke ich ein Häuschen fast direkt am Meer. Ich umrunde es, ein Weg führt senkrecht ins Land durch einen Garten nach hinten. Hier treffe ich auf eine junge Frau, die glücklicherweise englisch spricht.
»Vermieten sie hier Zimmer?«, frage ich sie.
»Ja. Aber hier vorne ist nichts frei.«
Ich bin enttäuscht. Offenbar bemerkt sie es.
»Hinten in dem Haus, etwa zweihundert Meter ins Land hinein, ist noch ein Zimmer frei.« Sie ruft etwas auf Griechisch zu dem Häuschen am anderen Ende des Gartens, bekommt Antwort, ein kurzer Dialog folgt.
»Hier vorne wird morgen doch ein Zimmer frei. Eine Frau hat sich den Fuß gebrochen und fliegt deshalb nach Hause.« Danach könnte ich übersiedeln, wenn es mir hier vorne besser gefiele, fügt sie noch hinzu. Natürlich will ich!
Der Preis ist zwar auch nicht gerade bescheiden. Er gilt pro Appartement, worin meist mindestens zwei Personen wohnen. Die Leute sind sich offenbar bewusst, dass sie eine wunderbare Lage bieten. Wenn ich morgen übersiedeln kann, dann habe ich ein Zimmer nur knapp dreißig Meter vom Strand entfernt. Toll!
Rosa Apartements
»Hi! Wartest du schon lange?«, fragt Alice, als sie beim Treffpunkt eintrifft.
»Nein, bin eben gekommen«, sage ich. Auch wenn das nicht ganz stimmt, weil ich zu früh da war.
»Hast du gefrühstückt?«
»Ja, eine Kleinigkeit. Von mir aus können wir gleich fahren.«
Das Wetter ist wieder so strahlend, wie ich es von hier gewohnt bin. Auf der Mani habe ich auch vor dem großen Gewitter meist ein paar Wolken festgestellt. Die Wolkenschiffe, ich jetzt beobachte, machen wieder einen friedlichen Eindruck.
Wir fahren die Kurven nach Areopolis hinauf, links durch den Ort, an Lagokili, Kalos und Velousi vorbei, dann rechts hinein nach Pirgos Dirou. Nun rollen wir bergab. Bevor wir ganz unten ankommen, müssen wir Tickets kaufen. Den Höhlenbesuch finde ich kostspielig. Für die Motorräder findet sich bei dem Umkehrplatz eine passende Stelle. Die Dead-End-Schlinge tangiert das Gebäude mit Restaurant, Souvenirladen und Höhleneingang.
Wir steigen eine Reihe Stufen geradeaus hinab. Am Ende der Treppe tut sich eine prächtige Grotte auf. Ein flacher Felsen schiebt sich knapp über der Wasserlinie in den unbewegten Spiegel des unterirdischen Sees. Einige dezent angebrachte Lampen tauchen den Raum in warmes Licht. Als wir stehen bleiben, ist die Stille unheimlich vollkommen. Wenige Ruderboote liegen unbeweglich und erwarten Besucher.
Eine Gruppe von Leuten kommen herunter. Ihre Schritte und ihr Geplapper lässt die feierliche Stille regelrecht zersplittern. Sie steigen in eines der Boote ein. Es wird genau voll. Einer der zwei Griechen tritt von hinten mit einem schwungvollen Schritt auf das Heck des Kahns. Zusätzlich stößt er ihn mit einer langen Holzstange vom Felsen ab. Das Grüppchen gleitet lautlos über den See und ich mutmaße bereits, dass er sich in der Richtung geirrt hat. Das Schiffchen nähert sich der gegenüberliegenden Wand an einer Stelle, an der ich nur ein niedriges Halbrund sehe. Im allerletzten Augenblick kauert sich der Bootsführer auf dem Boot zusammen, zieht Stock und Kopf ein, gibt eine kurze Anweisung, woraufhin alle anderen ihren Kopf noch ein Stück einziehen. Im Nu ist das gesamte Boot wie ein Spuk in der unscheinbaren Öffnung verschwunden und die Stille scheint sich zufrieden wieder auszubreiten. Nun erst komme ich dazu, mich umzusehen.
Bereits hier ist die Höhle überwältigend anzusehen. Eine Unmenge an Stalaktiten spiegelt sich mit ihrer fantastischen Farbvielfalt in der Wasseroberfläche. Außer uns ist nur ein weiterer Einheimischer hier, der sich nun an dem anderen Boot zu schaffen macht. Keine anderen Besucher, also werden wir wohl noch ein Weilchen warten müssen. Die Boote scheinen erst abzulegen, wenn sie voll besetzt sind. Der See ist kristallklar, ich kann auf den Grund sehen. Er wirkt zum Greifen nah, aber ich weiß, dass der See einige Meter tief sein muss. Seine Oberfläche liegt makellos blank vor uns. Der andere Bootsführer hat sich hingesetzt. Es ist still, lediglich ab und zu kann ich die glasklaren Töne von ins Wasser fallenden Tropfen hören. Jeder ist eine Nuance anders. Nun wieder klappernde und scharrende Geräusche dazwischen durch die Arbeit des Mannes, der wieder aufgestanden ist und sein Boot zur nächsten Ausfahrt vorbereitet.
Wie von Geisterhand getrieben schwebt ein Schiffchen geräuschlos aus dem größeren Höhlenausgang gegenüber unseres Standplatzes hervor. Es ist voller orangefarbener Schwimmwesten.
Aber ohne Passagiere.
Ich trete näher zu Alice und flüstere ihr zu: »Siehst du da drüben das Boot mit den Schwimmwesten ohne Leute?«
Sie nickt.
»Wahrscheinlich rauben sie weiter drinnen die Touristen aus und werfen sie dann an einer tiefen Stelle ins Wasser. Dann bringen sie die Westen für die nächste Runde zurück.«
Alice kichert und gibt mir einen Stoß in die Rippen.
»Sag das bloß nicht zu laut, sonst merken die, dass wir sie durchschauen«, flüstert sie zurück.
Ich grinse. »Ob sie die Touristen zuerst taxieren, ob es sich lohnt?«
»Oder ob sie die gefangen halten und dann Lösegeld verlangen?«
»... und die Lohnenden füttern sie durch, während sie die anderen gleich ins Meer schmeißen ...« Ich muss ein Lachen unterdrücken, das Kieksen von Alice hallt unheimlich laut mit all dem Echo.
Wie um unsere Überlegungen zu bestätigen, kommt ein zweites Boot aus dem Loch. Eine Menge Westen. Keine Passagiere.
Mit einem Mal verdunkelt eine Schar von Leuten den Treppenabgang und ihr Lärm quillt in den Höhlensaal herunter wie die Stichflamme einer Explosion durch Liftschächte in Actionfilmen. Unsere Bootsfahrt scheint in naher Aussicht. Wir sichern uns schnell einen Platz ganz vorne im Boot, schwankende Schritte auf wackeligem Untergrund. Natürlich haben wir vorher eine Schwimmweste bekommen. Und einen Helm. Das Boot ist voll, der Grieche steht nun auch bei uns im Heck und das flache Gefährt schwebt auf dasselbe niedrige Loch in der Wand zu. Es kommt immer näher und ich frage mich, ob wir da wirklich durchpassen. Reflexartig ziehen Alice und ich den Kopf ein, aber es ist genug Platz.
Der Steuermann erzählt auf Griechisch über die Höhlen. Schade, wir hätten uns vorher wenigstens oberflächlich informieren sollen. Aber das macht nichts, vielleicht ist es ohne Vorwissen sogar noch eindrucksvoller. Wenn der Bootsführer nicht redet, hört man nur das leise ›tock ... teck ...‹, wenn er uns mit dem langen Stab von einem Felsen zum nächsten weiter stößt. Das einzige Antriebsmittel. ›teck ... tock tock ... tack‹. Zwischendurch gläsernes blipp und blopp, wenn von den Stalaktiten Tropfen ins Wasser fallen. Ansonsten totale Stille. Andacht. Die touristischen Erklärungen des Bootsführers stören.
Überall verbreiten runde Lampen, die auf dem Wasser zu schwimmen scheinen, mildes Licht. Oft sind es nur Zentimeter, die den Kahn von einem Stein trennen. Mit artistischer Leichtigkeit laviert uns der Mann durch das Labyrinth. Binnen weniger Minuten verliere ich völlig die Orientierung, in welcher Richtung wir uns bewegen.
Alice und ich sitzen ganz still. Verstohlen beobachte ich sie immer wieder von der Seite. Atemlos bestaunt sie die Umgebung, mit der Ausschließlichkeit und Konzentration eines Kindes. Mit leicht geöffnetem Mund und strahlenden Augen blickt sie rund um sich. Ich bin auch verzaubert und vielleicht schaue ich ähnlich drein. Die Steine haben unterschiedlichste Farben und Formen. Einmal gleiten wir im rechten Winkel durch einen engen Durchschlupf, um dann wieder lautlos in einen hohen Dom einzufahren. ›tock ... tock ... blipp ... tack ... blupp-blippblipp‹ - Stille. Eine ganz knappe Passage, ich kann mit der Hand den Fels berühren. Er fühlt sich unerwartet glatt an. Spannung, was sich hinter der nächsten Biegung offenbaren wird. ›tock ... blipp ... tack‹. Ein tiefer Stollen tut sich seitlich auf, Stalagmiten ragen aus dem Wasser empor, Stalaktiten begegnen ihnen von oben. Manchmal haben sie sich bereits getroffen und sind zusammengewachsen. Der Reigen verliert sich in unergründlichem Dunkel. ›tack-tack ...‹ Eine virtuose nahezu 180-Grad-Kurve, wir schweben in eine Halle ein. Lang, prächtig, feucht, die kleinen Lampen auf der Wasseroberfläche verlieren sich in der Ferne. Staunen. Ich fühle mich als Eindringling in diesem Reich der Stille.
Später erfahre ich über die Höhle, dass sie bis zum Südzipfel der Mani hinunterreichen soll, bis dorthin, wo das Todesorakel des Poseidon steht. Dort soll sie in den Eingang zum Hades münden, dem Imperium des griechischen Gottes, dem die Unterwelt untertan ist. So wie Poseidon die Herrschaft über das Meer innehat und Zeus über den Himmel.
Mystisch und geheimnisvoll klingen die Namen der Grotten und Gänge, die wir durchfahren: ›Höhle des Drachens‹, ›Rote Halle‹, ›Meer der Schiffswracks‹, ›Elefantenfluss‹ und ›Die Straßen der Träume‹. Sacht und unwirklich schieben sich immer wieder neue Gestalten hinter anderen hervor, manchmal müssen wir den Kopf etwas einziehen, so nahe. Wir schweben über den ›Großen Ozean‹, der bis zu fünfzehn Meter tief ist, gleiten durch die ›Rosa Apartments‹ und die ›Weißen Apartments‹.
Als wir in eine größere Höhle einmünden, in der das Wasser besonders dunkel und tief wirkt, stoße ich Alice sachte an. »Hier werden sie uns wahrscheinlich die Schwimmwesten abnehmen und uns nach Stand und Vermögen befragen ...«, flüstere ich ihr zu. Sie schaut ostentativ in eine andere Richtung. Einzige, aber umso eindeutigere Reaktion ist ihr sehr spürbarer Stoß mit ihrem Ellbogen in meine Rippen.
»Ich bin fest entschlossen, ich geb meine Weste nicht her«, lege ich nach, »wir müssen jetzt stark sein.« Nun kehrt sie sich doch mir zu, wischt sich eine Träne von der Wange und versucht mir nachdrücklich zuzuflüstern, dass ich sofort still sein soll. Durch das zurückgehaltene Lachen hat sie ihre Stimme nicht ganz unter Kontrolle und es entfährt ihr dabei ein Quietscher. Das veranlasst sie dazu, mir gleich noch einen Rippenstoß zu verpassen. Unauffällig schaue ich nach hinten, alle Leute schauen an mir vorbei. Nein, nicht alle. Hinten sitzen zwei Mädchen. Auch wenn sie wahrscheinlich nichts verstanden haben, laufen sie Gefahr, angesteckt zu werden. Bei Teenies geht das ja manchmal recht zügig. Also sag ich nichts mehr, denn es ist wirklich eine friedvolle Stimmung, die ich nicht stören möchte.
Nach insgesamt einer knappen Dreiviertelstunde wird es heller und wir gleiten zu einem Anlegeplatz.
Sofort sage ich zu Alice: »Siehst du, hier müssen wir nun aussteigen! Auch wir kommen nicht zurück! Schau da drüben. Da liegen Schwimmwesten und Helme.« Und ich seufze: »Jetzt ist es so weit!«
In der Tat werden wir zum Aussteigen aufgefordert. Zudem sieht der Grieche, der Westen und Helm entgegennimmt, nicht vertrauenserweckend drein, dunkler Bart, dunkle Haare, finsterer Blick. Zur Strafe stoße ich mir, kaum habe ich den Helm abgegeben, den Kopf an einem Felsvorsprung. Aber es blutet nicht. Wir gehen zu Fuß weiter, der Weg schlängelt sich mal hinauf, mal hinunter in unbekannter Richtung. Nach einer Biegung wird es hell und wir stehen unvermutet im blendenden Sonnenschein. Verwirrt blicke ich um mich.
Viel verwirrter bin ich jedoch, als mich Alice unerwartet impulsiv umarmt und mir einen Kuss auf den Mund drückt.
»Danke, das war ein wunderschönes Erlebnis!«
Ja, finde ich auch. Wobei ich vermutlich an etwas anderes denke, als Alice.
Vor uns brandet das Meer an die Felsen und ich nehme mir Zeit, alles eben Erlebte nachklingen zu lassen. Ich lehne mich auf das Geländer neben dem Weg und schaue auf das weite Meer hinaus. Alice stellt sich neben mich. Ein Rudel Schmetterlinge tobt sich gerade in meinem Bauch aus und beschleunigt meinen Atem. Dann wandern wir das kurze Stück zurück. Der Weg am Meer entlang ist bequem und wir sind bald wieder an unserem Ausgangspunkt. Die Motorräder brüten mittlerweile in der Hitze. Neben dem Eingang zum Souvenirladen ist ein Wasserkühler. Man darf hier kostenlos eisgekühltes Wasser herauslassen, es ist Trinkwasser. Also füllen wir schnell unsere Flaschen an, so haben wir einen Vorrat. Es ist uns nicht nach Reden zumute, der Eindruck der letzten Stunde hängt in unserem Gemüt wie ein wertvoller Geruch und in meinem Bauch tanzen auch noch einige Schmetterlinge oder Ameisen oder was auch immer das ist. Wir wechseln lediglich ein paar Worte über den weiteren Verlauf der Reise: Zum Südzipfel der Mani soll es gehen, Porto Kagio, Tenaron, das Orakel des Poseidon.
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